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Europawahlen in Ungarn - eine Bilanz

Ergebnisse der Europawahlen in Ungarn 2009
Quelle: elections2009-results.eu

17. Juni 2009
Von Kristóf Szombati
Von Kristóf Szombati

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Die neue Grüne Partei erreicht einen unerwarteten Erfolg, doch das gelingt auch der radikalen Rechten.

Nur drei Monate nach ihrer offiziellen Gründung hat die neue Grüne Partei Ungarns LMP (Lehet Más a Politika / Politik kann anders sein) es geschafft, sich auf der politischen Landkarte des Landes einzuschreiben. In einem Bündnis mit der kleinen Humanistischen Partei hat die LMP 2,6 Prozent der Stimmen bekommen und ist damit auf dem fünften Platz gelandet, deutlich vor den Liberalen, die ein historisches Tief erreicht haben und unter Umständen von der politischen Landkarte verschwinden werden.

Der grüne Erfolg wurde jedoch durch das unerwartet starke Abschneiden der radikalen Rechten überschattet. Jobbik, eine neo-nationalistische außerparlamentarische Partei, die verspricht, mit der „Zigeunerkriminalität“ und den Machenschaften einer bekannt korrupten Elite Schluss zu machen, erreichte spektakuläre 14,8 Prozent und platzierte diese „neue Kraft“ direkt hinter den Sozialisten (MSZP). Letztere belegten mit 17,4 Prozent der Stimmen bei dieser Wahl den zweiten Platz.

Obwohl FIDESZ, die Mitte-Rechts-Partei in der Opposition, den ersten Platz errang, blieb ihr Ergebnis (56,4 Prozent) hinter die Prognosen zurück, die davon ausgegangen waren, dass sie zwei Drittel der zu vergebenden Sitze erringen würde. Schließlich gelang es der MDF, einer kleinen neokonservativen Partei, etwas unerwartet, ihren einen Sitz im Europäischen Parlament zu halten.

Wenn wir die Resultate mit denen von 2004 vergleichen (s. Tabelle), dann ist offensichtlich, dass wir Zeugen einer tief greifenden Neustrukturierung der politischen Landschaft im Land werden. Statt wie bisher zwei große und zwei kleine Parteien, haben wir nun eine große, zwei mittlere und eine kleine Partei im Europäischen Parlament. Außerdem hat sich die Reihenfolge dieser Parteien geändert. Während es bisher zwei Parteien auf dem linken Spektrum und zwei auf dem rechten gab, ist die Mitte-Rechts-Partei beinahe verschwunden, und die Stimmen für die große Partei der Sozialisten sind auf die Hälfte geschrumpft. Das summiert sich für die Linke zu einer verheerenden Niederlage, vergleichbar mit derjenigen in Polen im Jahr 2005. Mit der Niederlage ist sie von den Wählern für ihre inkompetente Wirtschaftspolitik abgestraft worden ist (die jede Form antizyklischen Krisenmanagements unmöglich gemacht hat), für ihre Korruptheit und für ihr Versagen, die Verschlechterung der Verhältnisse zwischen Roma und Magyaren in den wirtschaftlich benachteiligten Regionen des Landes in den Griff zu bekommen.

Die Verachtung der politischen Elite und der Aufstieg von Jobbik

Der durchschlagende Erfolg von Jobbik ist eng mit dem Gefühl der Verdrossenheit verbunden, welches das politische Klima Ungarns seit der Jahrtausendwende beherrscht. Die überwältigende Mehrheit der Bürger nimmt Politik als ein kompliziertes, weit entferntes und nicht kontrollierbares Geschäft wahr und die Politiker als immer inkompetenter, mit einer Selbstbedienungsmentalität ausgestattet und im übrigen „alle gleich“. Diese Wahrnehmung beeinflusst das Wahlverhalten, indem eine wachsende Anzahl nicht gebundener und desillusionierter Wähler entweder gar nicht mehr zur Wahl geht oder sich neuen, radikaleren Alternativen öffnet. Die einfache Botschaft von Jobbik, ihre Lösungen für den „gesunden Menschenverstand“ und die Betonung der Notwendigkeit, den Kapitalismus menschlicher zu machen, scheinen sowohl die Bedürfnisse der jungen Stadtbewohner zu treffen, die sich nach wahrer Demokratie und Gemeinsinn sehnen, als auch als auch diese der Masse, der ohnmächtigen ländlichen Bevölkerung, die in wirtschaftlicher Unsicherheit lebt. Deshalb haben viele Wähler in der Wahl dieser Partei eine Möglichkeit gesehen, ein starkes Signal an die Führer der beiden politischen Lager zu senden: „Kümmert euch (um unsere Sorgen) oder tragt die Konsequenzen (unseres Zorns!)“

Wenn man weiß, dass die Partei 2006 im Bündnis mit der offen antisemitischen MIÉP nur 119 000 Stimmen bekam (verglichen mit 427 000 bei den Wahlen der letzten Woche), leuchtet es durchaus ein, dass ein erheblicher Anteil ihrer heutigen Stimmen von der FIDESZ und der Sozialistischen Partei gekommen sein muss.

Es gelang Jobbik, diese Wähler anzulocken, indem man sich als einzige Partei darstellte, die offen über „Zigeunerkriminalität“ sprach und gegen sie vorging: eine wirkungsmächtige Metapher, die die materiellen Sorgen und die Angst vor dem Abstieg in der Mittel- und Arbeiterklasse in Zeiten der Krise und ihre wachsende Unduldsamkeit gegenüber „Faulheit“ und „Wohlfahrtsschnorrerei“ in den wirtschaftlich notleidenden Regionen geschickt miteinander verbindet. Die Partei baute eine paramilitärische Organisation auf, die sich in ihrer Symbolik deutlich an die faschistische Bewegung der Pfeilkreuzler anlehnt (welche 1944-45 für die Ermordung Tausender jüdischer Bürger in Budapest verantwortlich war), nämlich die Ungarische Garde. Deren Mitglieder marschierten in durch ethnische Spannungen zerrissene Dörfer ein, um dort „die Ordnung wiederherzustellen“. Diese berüchtigten Märsche haben die Roma-Gemeinden in Angst und Schrecken versetzt und den Boden für die gewaltsamen Attacken der letzten Monate gegen unschuldige Familien bereitet.

Man muss Jobbik also als eine neo-nationalistische Bewegung mit zwei Gesichtern einordnen, die sich sowohl an Protestwähler wie auch an die militante fremdenfeindliche Rechte richtet, deren miteinander zerstrittene Fraktionen sie einigen konnte. Die Gefahr, die sie darstellt, liegt nicht nur in der Fähigkeit und Entschlossenheit, soziale Unruhen und Misstrauen zu schüren. Wenn FIDESZ (die während ihrer Zeit an der Macht gewisse Neigungen gezeigt hat, dem Weg von Berlusconi zu folgen) versuchen sollte, die radikale Rechte in Schach zu halten, indem sie selbst in den Diskurs und die Praxis der äußersten Rechten einsteigt, könnte dies zu einer entscheidenden Verschiebung innerhalb der ungarischen Politik führen. Es könnte in einen neuen „Kulturkampf“ und der weiteren Demontage des „linken Pfeilers“ (soziale Rechte und Dienstleistungen) des Staates und der Stärkung des „rechten Pfeilers“ (Gesetz und Ordnung) münden. Dennoch machen Jobbiks zwiespältiger Charakter und Heterogenität die Partei für Angriffe von Mitte-Links und Mitte-Rechts anfällig. Zudem könnten weitere Aktionen der halbautonomen Ungarischen Garde leicht die Protestwähler verschrecken, die der Partei bei dieser Wahl einen beträchtlichen Teil ihrer Stimmen verschafften.         
   
Die verwirrte Linke

Wie schon erwähnt, endeten die Wahlen zum Europaparlament in einer einschneidenden Niederlage für die Linke. Sowohl Liberale als auch Sozialisten, die beide weder Visionen, brauchbare Lösungen noch glaubwürdiges Personal hatten, führten eine weitgehend negativ bestimmte Wahlkampagne, die vor allem die „faschistische Gefahr“ beschwor, welche über dem Land schwebe. Bürger, die in den früheren Wahlen (2002 und 2006) die sozialliberale Koalition unterstützt hatten, erwiesen sich diesmal als immun gegen diese Form der Manipulation. Viele zogen es vor, zu Hause zu bleiben oder eine der kleineren Parteien zu unterstützen (in den Städten vermutlich MDF oder LMP, auf dem Land und im Nordosten wohl Jobbik). Das war besonders für die Liberalen ein Tiefschlag, deren linker Flügel (Verfechter der Menschenrechte und ökologischer Ideale) zur LMP und deren rechter Flügel (Verfechter des freien Marktes) zum MDF abgewandert sind.

Den Sozialisten geht es nicht besser. Die von einigen vorgeschlagene Wende nach links mag die Entstehung und den Aufstieg einer neuen politischen Bewegung links von der Sozialistischen Partei verhindern und zugleich den Fortschritt der LMP eindämmen (deren radikalere Haltung zum globalen Kapital und deren Bekenntnis zur Erhaltung der Errungenschaften des europäischen Wohlfahrtsstaates eine Menge Wähler links von der Mitte angezogen haben).

 Aber in den elf Monaten bis zu den ungarischen Parlamentswahlen ist es sicherlich unmöglich, dass Gyurcsánys pragmatischer Blair-Kurs sich in eine militantere Linkspolitik wandelt. Nach Medienberichten führt dies bei einigen sozialistischen Politikern zur Erwägung des Gedankens, das Wachstum der LMP zu fördern, die als einzig glaubwürdige politische Kraft erscheint, welche das Vakuum auf der linken Seite des politischen Spektrums besetzen könnte.

Das Erstarken der Grünen

Die 75000 Stimmen, die LMP und Humanistische Partei auf sich vereinigen konnten, bilden die zweitgrößte Überraschung dieser Wahl. Der Partei ist es gelungen, genug Menschen auf der Linken wie der Rechten von ihrer Entschlossenheit zu überzeugen, „das politische Feld freizumachen“, größere Transparenz herzustellen und mehr Raum für politische Teilhabe zu schaffen. Obwohl das Programm auch auf die Bürger in kleineren Städten und auf dem Land zielte, fand der von LMP gepflegte Kommunikationsstil den größten Anklang bei den jungen, gut ausgebildeten Großstadtbewohnern, einer Wählerschaft, die bis dahin liberal (oder sozialistisch) gestimmt hatte. Dennoch gewann die LMP mehr als die Hälfte ihrer Stimmen außerhalb der Hauptstadt. Das bedeutet, dass die Partei, wenn sie es schafft, eine stärkere Präsenz in kleineren Städten und auf dem Land zu erreichen, in näherer Zukunft Anhänger sowohl auf der Linken wie auf der Rechten finden kann. Bis jetzt hat sie das geschafft, indem sie – und das ist ein wichtiger Faktor ihres frühen Erfolgs -, ein tragfähiges Programm sowohl hinsichtlich Umweltfragen als auch eines anti-neoliberalen Wirtschaftskurses entwickelt hat und Fragen in den Mittelpunkt stellt, die Wähler sowohl auf der Linken wie auf der Rechten betreffen: Korruption und das Demokratiedefizit, die Gesundheit der Bürger, nachhaltige Entwicklung und grüne Arbeitsplätze.

Allerdings ist die Partei bisher weitgehend solchen heißen Eisen wie der Politik gegenüber sexuellen Minderheiten, der Drogenpolitik und der Euthanasie aus dem Weg gegangen. Wenn ihre Mitglieder und ihre Führung sich als fähig erweisen, wenigstens zu einigen dieser so genannten „kulturellen“ Fragen eine gemeinsame (vermutlich „gemäßigt liberale“) Haltung zu entwickeln und außerdem ein glaubwürdiges Programm für die Reintegration der „extrem Armen“ (deeply poor) vorlegen können (von denen die Roma eine markante Untergruppe bilden), dann besteht eine reelle Chance, dass die Partei im Jahr 2010 ins ungarische Parlament einziehen kann.

Kristóf Szombati ist Koordinator für die internationalen Beziehungen in der LMP.   

Übersetzung aus dem Englischen: Jochen Schimmang.

Election Results

2004 % of votes Number of seats 2009 % of votes Number of seats
FIDESZ 47.4 12 FIDESZ 56.4 14
MSZP 34.3 9 MSZP 17.4 4
SZDSZ 7.7 2 Jobbik 14.8 3
MDF 5.3 1 MDF 5.3 1
MIÉP 2.4   LMP-HP 2.6  

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